Erinnerungsstücke wecken Gefühle wie Vertrautheit, Geborgenheit, Sehnsucht, Nähe.
Mutter wäre im Sommer 2023 hundert Jahre alt geworden.
Die Zeit
Die Jahre vergehen trotz Kummer und Leid. Die Zeit kennt kein Verweilen, sie eilt dahin, wird Vergangenheit, schlägt Wunden, kann trösten und heilen. Oft ist der Weg der Schmerzen voll, auch wird zu wild der Schritt. Dann bleibt man stehen im wilden Lauf und kann nicht weiter mit. Doch blickt man auf aus starrem Schmerz und fragt sich nach der Zeit, dann muss man sehen, dass sie nicht stand vor unserm großen Leid. Denn die Jahre vergehen trotz Kummer und Leid. Die Zeit kennt kein Verweilen, sie eilt dahin, wird Vergangenheit; Wohl dem, den sie tröstet und heilt.
Ilse Haner aus Schäßburg, 1948
Als Ilse Haner diese Zeilen am 15.01.1948 verfasste, da muss sie sich gleich meinen Eltern noch in einem der Arbeitslager im weiten Donbas befunden haben. Das Gedicht habe ich in dem dritten Band von Georg Weber, Renate Weber- Schlenther, Armin Nassehi, Oliver Sill und Georg Kneer:
„Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945–1949“ gefunden. Es soll in den letzten zwei Jahren ihrer Deportation den Verschleppten, soweit sie die ersten Schreckensjahre überlebt hatten, schon etwas besser gegangen sein. Es bestand in diesen letzten Jahren größere Hoffnung, was ich aus den Erzählungen der Eltern und deren Besucher als zehnjähriges Kind in den 60er Jahren mitbekommen habe, auf eine baldige Rückkehr in die geliebte Heimat Siebenbürgen. Wenn ich an verregneten Herbsttagen oder in den weihnachtlichen Zeiten in dem Fotoalbum unserer Eltern blättere, stoße ich unweigerlich erst auf die Fotos, die sie aus der Deportationszeit in ihrem kümmerlichen Reisegepäck mitgebracht haben und die sorgfältig aufgehoben worden sind. Es sind schwarzweisse Fotos und teils in guter Auflösung.
Ich frage mich, wie diese Fotos zustande kommen konnten. In Anbetracht dessen, was man von dem unendlichen Elend, dem tiefen Schmerz, dem großen Leid und dem unendlichen Kummer der jungen deportierten Menschen weiß, erstarre ich jedesmal in tiefer Bewunderung beim Anblick der lächelnden fröhlichen Gesichter, die ich auf den Fotos sehe, welche ich im Fotoalbum meiner Eltern habe. Ich weiss, heute besser denn je, welch kraftvolles Wunder Liebe, Hoffnung und Zuversicht auslösen können. Heimkehr aus dem schrecklichen Arbeitslager, frei sein von Angst und Pein und in geregelten und würdigen Verhältnissen mit vertrauten Menschen wieder friedlich im Alltag zu versinken, muss beflügelnd gewirkt haben. Im Gedicht : „Ich glaube schon nimmer“ gibt Gertrud Schlattner aus Hermannstadt im Jahre 1946, zu Bedenken, „….ob ein gütiges Schicksal unser Elend je wendet“ und endet mit den bittenden Worten: „Ich möchte nur traumlos, wunschlos ruhen. Nicht arbeiten noch festen, nur schlafen und essen, an nichts gewaltigem die Kraft mehr messen.“
Auf den Fotos im Album kann ich tanzende junge Frauen, meine Mutter mitten drin, sehen, die auf einer Wiese hinter den Lagerräumen etwas Entspannung oder Ablenkung von dem noch großen ungewissen Etwas gefunden haben. Für mich ist es eine Art Trost zu wissen, dass unsere Eltern nach den schweren Zeit zum Leben erwachen konnten.
Insoweit verstehe ich Ilse Haner nur zu gut, wenn sie mitten im Deportationsgeschehen diese Schlusszeile für ihr Gedicht gefunden hat und etwas Hoffnung aufkommen lässt:
„Wohl dem, den sie (die Zeit) tröstet und heilt.“
Meine Eltern hat die Zeit Gottseidank getröstet und geheilt. Daran glaube ich sehr fest. Erst nach diesen furchtbaren Ereignissen der Deportation konnten sie eine echte Familie aufbauen, hatten Mut und Vertrauen ins Leben nicht verloren. Meine Schwester und ich wurden nach dieser zeit geboren und trotz schwierigen Zeiten haben unsere Eltern die verwaiste Tochter eines Bruders und den Sohn der alleinerziehenden jüngeren Schwester der Mutter in die Familie aufgenommen. Und das ohne Aufforderung von behördlicher Seite oder irgendwelcher Sozialdienste. Es geschah aus purer Mitmenschlichkeit, wie das auch viele andere Landsleute taten. Wir Kinder wuchsen gleichberechtigt auf und gehören bis heute zusammen. Unsere sechsköpfige Familie lebte in den 50er und Anfang der 60er Jahre Dank dieser besonderen Kraft meiner Eltern und Dank ihrer unermüdlichen Fleißes, ein unauffälliges und glückliches Leben in der gesegneten Dorfgemeinschaft in Heldsdorf im Burzenland. Ich glaube, dass Sorgen und Schmerz, Leid und Kummer den Menschen in seinem Menschsein wachsen lässt genau so, wie Glück und Freude Kraft spendet zum erfüllten Leben. Dezember 1949 wurde die Rückkehr unserer Eltern aus der Deportation tatsächlich wahr. Neben all dem bekannten Leid der Deportierten im Arbeitslager Donbas hatten Vater und Mutter, die frisch verheiratet nach wenigen Tagen 1945 „ausgehoben“ wurden, auch ein weiteres entsetzliches persönliches Drama zu ertragen. Eine schwere Explosion im sowjetischen Kohlebergwerk noch im ersten Sommer der Verschleppung überlebte Vater nur knapp, lag über ein Jahr in einem russischen Krankenhaus mehr oder weniger gut versorgt und blieb für sein ganzes Leben sichtbar gezeichnet. Die Verbrennungen waren nicht nur oberflächlich sichtbar, auch die Innenorgane wurden vom eingeatmeten Kohlenstaub in ihrer Funktion stark beeinträchtigt. Und dennoch- beide strahlen auf den beiden Fotos. Das Schicksal war wahrhaftig gnädig mit ihnen, Vater gesundete, sie blieben am Leben und blieben zusammen und sollten später uns Kinder mit viel Elternliebe und großer Zuversicht für das spätere Leben erziehen.
In der Vitrine meines Gästezimmer liegen heute unzählige Erinnerungsstücke verschiedenster Art. Eines aber ist ein ganz besonderes Stück: Mutters gehäkeltes Kopftuch, welches sie an ihrem Arbeitsplatz im Eingangstunnel eines Bergwerks im Donbas der damaligen Sowjetunion fabrizierte. Ja-fabrizierte, denn nicht nur das Garn war auf abenteuerlichem Weg erworben, sondern auch die Häkelnadeln waren aus irgendwelchen Drahtresten zusammengebastelt. Mutter erzählte uns oft kurze Geschichten aus dieser Zeit ihrer Zwangsarbeit, die uns Kindern manchmal sogar belustigten, meist aber unglaublich nachdenklich stimmten. So erfuhren wir unter anderen auch von einer ihrer Aufgaben, wo sie auf einem kleinen Schemel im Eingangstunnel zum Bergwerk den ganzen Tag lang sitzen musste, um eventuelle Nachrichten vom Bergwerk nach außen oder umgekehrt weiter zu melden hatte. Hier hatte sie Zeit zum Häkeln. Allein schon, dass sie das Garn nicht kaufen konnte, war für uns Kinder merkwürdig. Dass sie aber neue kleine Knäule aus restlichen Baumwollfäden, die am Boden landeten, aufrollte, erstaunte uns Kinder dann doch. Diese Baumwollfäden waren fest und wurde zum Binden von irgendwelchen sonstigen Sachen verwendet. Mutters Erfindungsgeist verblüffte. Sie häkelte fleißig dies und das daraus und so auch ein Kopftuch. Sie trug es gern und oft, wie man auf vielen der Fotos aus dem elterlichen Album sehen kann. Später dann in der Heimat wurde es ein Teil der Kirchenbekleidung. Ich erinnere mich noch sehr gut an den eigenartigen Geruch dieses Kopftuches, der heute zu schwächeln beginnt. In dem Kleiderschrank im vorderen Zimmer hing das Stück ordentlich auf den Schultern des schwarzen Kirchenmantels. Darunter stand neben den schwarzen Kirchenstiefeln ein grosses Paket mit Zigaretten der Marke Nationale ohne Filter. Vater blieb bis zu seinem Tode Raucher trotz eingeschränkter Lungenfunktion. Um ihm tägliche Gänge zum Zigarettenkiosk zu ersparen, versorgte ihn Mutter mit Zigaretten in großer Packung. Dieser Zigarettenduft übertrug sich klar auch in das gute Tuch und die Kleidung, was auch die Motten fern halten sollte. Heute darf ich es verraten: von diesen Zigaretten hab ich als pubertierendes Mädchen auch manchmal einige wegstibitzt. Nie hat jemand was gemerkt, geschweige etwas vermisst. Irgendwo draussen in der Dämmerung weit weg vom elterlichen Hof wurden sie mit den Freundinnen geraucht. Gehustet haben wir anfangs schon aber der Reiz des Verbotenen war köstlich. Oh je!
Mutter trug also in meiner Kindheit das gute Stück nur noch als Schal unter dem Kirchenmantel. Damals gehörte es zu ihrer Kirchenbekleidung und war für mich ein Schal wie viele andere auch.
Heute allerdings bedeutet mir dieser Schal unheimlich viel. Er liegt sanft gebettet auf meinem Trachtengürtel im mittleren Fach der Vitrine. Es ist zu einem wichtigen Stück Heimat für mich geworden. Die Überlegung es selber zu tragen, habe ich nie gehabt, denn erworben habe ich es erst, nach dem Scheiden der Mutter.
Erinnerungen sind machmal beängstigend, vor allem dann, wenn sie so ein Paket von Last und Trauer verbergen. Erinnerungen können aber auch Freude und Frohsinn verbreiten und gelebtes Leben füllen und bereichern.
So löst dies Suppengeschirr aus dem Bestand des Elternhauses zum Beispiel unheimlich schöne Erinnerungsgeschichten aus. Es kam in meinen Besitz bei der Ausreise in die Bundesrepublik im 1984.
Dieses wichtige Erinnerungsstück befindet sich in meinem Erinnerungsschrank im untersten Fach der Vitrine. Es ist das Familien Suppengeschirr meiner Kindheit. Es steht da in der Vitrine nicht abgestellt sondern hat einen Ehrenplatz zwischen weiteren Schätzen bekommen, die mir sehr wichtig geworden sind. Wendet man die Teile einzeln, findet man den Stempel eines Porzellan Hersteller, der nur in Anbetracht des Kaufortes etwas erstaunt, nämlich Heldsdorf im Jahre 1944. Das kam so: Als junge Frau radelte Mutter aus dem benachbarten Ort Marienburg täglich zu ihrem damaligen Arbeitsplatz nach Heldsdorf zu dem Haushaltsgeschäft, welches ein Marienburger Geschäftsleiter führte. Dort haben sich unsere Eltern auch kennen gelernt. Zu der Zeit war der Laden eine Art „Tante Emma Laden“. Vom Nagel bis zum feinsten Leinen soll es da alles zu kaufen gegeben haben. An einem schönen Tag soll meine Tante Luise zufällig vorbeigeschaut haben, während Mutter das auffällige wunderschöne Suppengeschirr gerade in das Regal einräumte. Voller Begeisterung zeigte sie die hübschen Teile der zukünftigen Schwägerin. Die Freude an ihrem Hochzeitstag Ende 1944 war riesengroß, als sie das Geschirr auf dem Gabentisch fand und auspacken durfte. Nach nur ein paar Tagen nach dem Hochzeitsfest aber mussten die Eltern alles stehen und liegen lassen und wurden in die Züge verfrachtet, die sie dann ins große Ungewiss nach Russland in den Donbas, wo heute wieder ein furchtbarer Krieg tobt, deportiert. Diese Fahrt muss die Hölle gewesen sein. Es kann kein Wunder sein, dass Mutter bis zur Ausreise nach Deutschland nie wieder in einen Zug gestiegen ist. Dass sie dann aber nach fünf Jahren der Deportation, fern von Haus und Hof das Geschirr unberührt und nicht gebraucht noch im Küchenschrank vorfanden, grenzt hingegen an ein echtes Wunder. Für uns Kinder gab es Anfang der 60er Jahren unendlich viele Festtage. Es war die Zeit, wo verschollen geglaubte Verwandtschaft, verloren geglaubte Freunde Dank günstigen politischen Entwicklungen aus dem weiten Westen in die Heimat zurückfanden und Vater besuchten. Es gab viele Wiedersehensfeste über viele Sommerzeiten hinweg. Verwandte, Freunde, Bekannte aus dem westlichen Deutschland wurden in allen Ehren empfangen und beköstigt. Wenn dieses Bavaria Geschirr aus dem Schrank geholt wurde und die langen weissen Leinentischdecken auf die Tafel gezogen wurden, stand das nächste Festessen auf dem warmen Herd. Unermüdlich war Mutter mit der Beköstigung der geladenen Gäste beschäftigt. Wir Kinder halfen beim Tischdecken und Essen Zubereiten freudig mit. Für mich als Kind aber gab es nichts Schöneres als den Erzählungen der Erwachsenen zu lauschen, wenn auch vieles unverstanden blieb. Ich staunte nicht schlecht, dass Vater nicht alles billigte, was ihm zugetragen wurde. Sich zu der Zeit für eine Ausreise in das westliche Wirtschaftswunder zu begeben, kam für ihn nicht in Frage. Heute kann ich diese Entscheidung verstehen, denn sein Leben und sein Platz gehörte zum Burzenländer Ackerland. Die Heimat, die ihm während der Deportation so wertvoll geworden war, zu verlassen, hätte er nicht schadlos verkraftet. Ich fand zu diesem Gedanken im dritten Band des oben erwähnten Buchbandes das Gedicht von Kurt Ziegler aus Hermannstadt, welches Ende des Jahres 1945 verfasst wurde und dieser Sehnsucht eine Stimme verleiht. Die Heimat, aus der unser Vater zwangsweise verschleppt wurde, wollte er freiwillig sicherlich nie verlassen.
Warte, o Heimat
Vier Jahreszeiten sind fast verstrichen, aber wir sind nicht von der Stelle gewichen. Wie träge doch hier die Zeit vergeht! Nur manchmal schwebt ein stilles Sehnen nach unserem Vaterland, dem schönen:
Warte, o Heimat, ist unser Gebet. Und kannst du die Jahreszeit nicht halten,denn sie gehorchen anderen Gewalten, Wir wissen: es kommt auch im nächsten Jahre der junge Frühling, der wunderbare, und der Sommer und seine Lieder und Herbst und Winter, sie kommen wieder! Vielleicht steht die Heimreise doch vor der Tür?
Warte, o Heimat, bald sind wir bei dir.
Mutter wäre im Sommer 2023 hundert Jahre geworden Sie war eine stolze und immer gut organisierte und hilfsbereite warmherzige Frau, mit viel Humor und weisen Sprüchen auf der Zunge. Wenn ich an sie denke, muss ich nicht mehr nur noch weinen, wie noch die Jahren zuvor. Viel eher löst der Gedanke an sie bei mir eine Reihe von wunderbaren Kindheits- und Jugenderinnerungen aus, die sich teils wie ein schöner Film vor meinem inneren Auge abspielen. So auch folgende, die von diesen zwei einzigartigen Kleidungsstücke handeln. Mutter fertigte beide in Russland und brachte sie mit nach Hause. Hier waren sie im Kleiderschrank ordentlich eingeräumt: die olivgrünen Bluse und das braunen Kleid. D i e s e s s c h i c k e o l i v g r ü n e selbstgehäkeltes Oberteil trug ich stolz zu meinen ersten Jeans Ende der 60er Jahre. Das wunderschöne hellbraune Kleid, welches Mutter aus einem samtfeinen Strickmaterial genäht hatte, ging beim Kleidertausch mit einer Jugendfreundin verloren. Sehr begeistern war Mutter darüber nicht. Heute ahne ich, wie tief ich sie damals verletzt haben muss. Meine jugendliche Unüberlegtheit hat sie mir aber verziehen und das ist tröstlich. Mutterliebe ist halt nichts, was man kontrollieren und lenken kann. Sie ist da, vollbringt Wunder und prägt.
„Wenn ich in kummervollen Nächten quäle, die Sehnsucht hart nach meinem Herzen greift, dann tritt dein Bild mir, Mutter, vor die Seele, In tausend bangen Stunden tief gereift“
schrieb aus dem fernen Osten der Deportierte Andreas Türk aus Felsendorf an seine Mutter.
Erinnerungen sind Bausteine gelebten Lebens. Manchmal muss man Erinnerungen wecken, um Gegenwärtiges besser zu verstehen und wieder Frieden zu finden. Erinnerungen können uns unsichtbar tragen und letztendlich uns so wie wir halt sind ausmachen. Wohl dem, der viele solche Stützen, Hilfen und Schätze in einer Erinnerungsvitrine aufbewahrt hat und liebt.
Roselinde Markel
Im Herbst 2023